13.02.2024

Kulturelle Bildung im Kinder-, Jugend-, Schul- und Amateurtheater – Eine gemeinsame Positionierung

„Der wahre Sinn der Kunst liegt nicht darin, schöne Objekte zu schaffen.
Es ist vielmehr eine Methode, um zu verstehen.
Ein Weg, die Welt zu durchdringen und den eigenen Platz zu finden."
- Paul Auster -


1. Annahmen und Definitionen

1.1. Bildung (von ahd. Bildunga, Schöpfung, Bildnis, Gestalt)
bezeichnet die Formung des Menschen zu einer Persönlichkeit, die sich durch besondere geistige, physische, soziale und kulturelle Merkmale
auszeichnet. Darunter versteht man den Prozess, sich zu bilden oder gebildet zu werden sowie den Zustand „gebildet zu sein“. Was damit gemeint ist, hängt von der historischen und gesellschaftspolitischen Situationen - man könnte auch sagen den „Wirklichkeiten“ - ab, auf die sich das Bildungsverständnis bezieht, bzw. aus denen heraus, die gerade „herrschenden“ Bildungsverständnisse definiert werden. Ein Merkmal von Bildung, das nahezu allen Bildungstheorien entnehmbar ist, lässt sich als reflektiertes Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt beschreiben.(1)
Alexander von Humboldt definierte Bildung als „die Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen“.(2)

1.2. Frühkindliche Bildung
beginnt spätestens mit der Geburt. Vom ersten Tag eignet sich ein Kind die Welt an, um ein Teil derselben zu werden. Wahrnehmung über alle Sinne, Kontaktaufnahme, Sprachentwicklung, Nachahmung und aktive Teilhabe sind zentrale Entwicklungsschritte. Im Spiel nimmt das Gestalt an. Kinder sind in ihrem Spiel noch ganz bei sich selbst, es ist Teil ihres Lebens. Im Rollenspiel erproben Kinder reale oder fiktionale Personen und Situationen ihrer Lebenswelten. Hier finden die ersten Schritte in Richtung Empathie, Ambiguität, Toleranz und Resilienz statt. Hier entscheidet sich, ob (Selbst)Vertrauen oder Angst und Fremdbestimmung die Biographie begleiten. Und hier greifen die Erwachsenen gezielt ins Spiel ein, machen Vorschläge, schaffen Spiel- und Freiräume, verfolgen Ziele, steuern, lenken und prägen auf entscheidende Weise Bildungsprozesse.

1.3. Bildung und Schule
„Der Begriff „Bildung“ wird allem voran mit Schule assoziiert, in der Lehrer:innen versuchen, ihren Schüler:innen das Maß an Bildung zu vermitteln, welches in Bildungsplänen als angemessen festgelegt wurde.“(3)
Dieser Satz markiert eine grundlegende Misere unseres Bildungsverständnisses. Bildung wird als passiver Prozess verstanden, Lehrer:innen vermitteln Wissen, Lernende „werden gebildet“. Die Verantwortung für Bildungsprozesse wird der Institution Schule überantwortet und nicht in die Eigenverantwortung des Individuums gelegt. Dieses Dilemma spiegelt sich auch im Schulverständnis. Geht es um die Aneignung faktischen Wissens oder um den Erwerb von handlungsorientierten Kompetenzen? Wird man gebildet oder bildet man sich?

1.4. Bildung und Kompetenzen
Im Moment dominiert der Kompetenzbegriff das schulische Bildungsverständnis. Die aktuellen Bildungspläne sind Kompetenzkataloge, die sich an sechs Leitperspektiven orientieren und in inhalts- und prozessbezogene Kompetenzen gliedern. Diese sind mitunter nur wenig nachvollziehbar aufeinander bezogen und verlieren dadurch an Trennschärfe. Es fällt so zunehmend schwerer, gewisse Inhalte und Kompetenzen überhaupt zu verorten, „epochaltypische Schlüsselprobleme“, die der Bildungstheoretiker Wolfgang Klafki noch als zentrale Aufgabe (nicht nur) schulischer Bildung bezeichnet hat, laufen Gefahr, zu verwässern oder ganz verloren zu gehen. Eine Aufgabe von Bildung sollte es aber sein, dass „Haltungen“ entwickelt und eingenommen werden können. Für einen umfassenden Bildungsbegriff braucht es eine Kombination unterschiedlicher Kompetenzen und zu vermittelnder Inhalte und entsprechende Tätigkeitsfelder, auf denen dann Haltungen entwickelt, erprobt und in historischen Kontext gestellt werden können.

2. Theater im Kontext von Bildung

2.1. Theater ist ein Ort der Bildung
Theater verstand sich immer im Kontext von Bildungsprozessen. Das Zusammenleben der Menschen, ihr Selbstverständnis und die zentralen Lebensfragen der jeweiligen Zeit wurden und werden auf den Bühnen verhandelt und den Zuschauer:innen dabei der Spiegel vorgehalten. Von Seiten der Spieler:innen erfordert es die unbedingte Auseinandersetzung mit diesen Fragen, nur dadurch gelingt die glaubhafte Darstellung. Theater war und ist nicht Wirklichkeit, sondern der Versuch, diese transformiert abzubilden, zu projizieren oder weiterzudenken mit dem Ziel, Auseinandersetzungen mit Leben, Lebensentwürfen und Verhältnissen anzustoßen und das möglichst auf emotional-affektiver Ebene. Schiller geht in seinem ästhetischen Erziehungsverständnis so weit, dass er sagt: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“(4)
Theater ist ein Transformationsprozess: Aus Wirklichkeit wird Kunst. Und Paul Klee formuliert einen Kunstbegriff, der auch für das Theater gilt:„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“(5) Theater war immer schon ein Ort der kulturellen Bildung.

2.2. Theater ist Spiel-Raum und besonderer Bildungsraum
„Wer spielt, konsumiert nicht. Wer spielt, benutzt nicht. Wer spielt, begegnet dem Gegenüber auf Augenhöhe. Deshalb ist das Spiel in einer von der instrumentellen Vernunft des Ökonomismus beherrschten Welt eine subversive Kraft. Spielen öffnet Räume unbedingter Sinnhaftigkeit, auch wenn kein Zweck dabei verfolgt und kein Nutzen avisiert wird. Spiele öffnen Räume für Kreativität, genauer: für Kokreativität, denn Möglichkeiten werden am besten erprobt und Potentiale am besten entfaltet, wo Menschen miteinander spielen. Gemeinsames Spielen ermöglicht Entwicklung und Innovation. Spielplätze sind Landeplätze, auf denen das Neue in die Welt kommen kann. Wenn wir zu spielen aufhören, hören wir auf, das Leben in all seinen Möglichkeiten zu erkunden. Und damit verspielen wir die Potentiale, die in uns stecken. Wer dem Leben nicht spielerisch begegnet, den erstickt es mit seinem Ernst. Das Leben ist kein Spiel, aber wenn wir nicht mehr spielen können, dann können wir auch nicht mehr leben.“(6)

3. Theatrale Prozesse sind Bildungsprozesse

3.1. Theater ist eine soziale Kunstform
Theaterspielen und Theatermachen geschieht in der Regel in der Gruppe. Dabei ist es zentral, miteinander und unterstützend zu agieren, das heißt, Vertrauen, Zugewandtheit, Verlässlichkeit unter den Beteiligten aufzubauen und zu praktizieren. In der künstlerischen Arbeit entstehen gruppendynamische Prozesse, die verbindend und verbindlich wirken. Theatermachen erfordert Teamarbeit und bedeutet, sich mit der Darstellung von Menschen und deren Schicksalen zu befassen. Es ist ein hervorragendes Übungsfeld soziale und empathische Erfahrungen zu machen.

3.2. Theater entwickelt Persönlichkeit
Theatermachen kann die einzelne Persönlichkeit fördern: die Selbstbewusstheit und die Selbstständigkeit. Team-, Kommunikations-, Konflikt- und Resilienzfähigkeit werden auf die Probe gestellt, die Spieler:innen-Persönlichkeit wird in ihrer Kreativität und Flexibilität gefordert. Sehr individuelle Stärken und Begabungen können aufgespürt und ausgebaut werden.

3.3. Theater schafft ästhetische Bildung
Das Theater als polyästhetisches Medium, das verschiedenste Kunst- und Kommunikationsformen sowie handwerkliche Prozesse in sich vereint, kann eine besondere Bandbreite an kulturellen und ästhetischen Herausforderungen bieten. Wer Theater macht, bewegt sich in den Bereichen der Darstellenden Kunst, der bildenden Kunst, Musik, Tanz und Choreografie, Literatur, szenischem Schreiben und Textgestaltung sowie Medien - um nur die zentralen Gestaltungselemente von Bühnenkunst zu benennen.

3.4. Theater arbeitet ganzheitlich
Theater spricht immer den ganzen Menschen an und fordert ihn auf verschiedensten Ebenen: Körper und Geist, das Individuum und die Gruppe, Vergangenheit und Gegenwart, Gefühl und Verstand, alle Sinne sind aktiv. Zurückhaltung aber auch Mut zur Selbstdarstellung sind gefragt. Deshalb kann Theaterspielen nachhaltige Schlüsselerlebnisse für die Eigenwahrnehmung, die individuelle Persönlichkeitsentwicklung und sozialen Kompetenzen vermitteln.

3.5. Theater für alle und von Allen
Theater arbeitet per se inklusiv und integrativ. Besondere Methoden und Konzepte können diesen Ansatz noch erweitern und unterstützend fördern. Theater machen kann jeder: Stärkenorientiert können zum Beispiel gehandicapte Spieler*innen gleichberechtigt ihr Spiel entfalten, sich in nonverbaler Kommunikation ausdrücken und sonstige komplexe und reiche Formen der vielschichtigen Bühnensprache entdecken und ausagieren. Das gelingt deshalb so gut, weil im Mittelpunkt immer der Mensch steht, der spielt - egal wo er herkommt, wie alt er ist, welche Sprache er spricht oder welche körperlichen und geistigen Fähigkeiten er hat.

3.6. Theater arbeitet kompetenzorientiert
Theater ist immer mit Kompetenzen verbunden. Auf der darstellenden Seite sollen Menschen sichtbar werden, ihr Auftreten, ihre Sprache, Status in kommunikativen Situationen, ihr Selbstbild und ihre Fremdwahrnehmung. Auf die Zuschauer:innen müssen diese gespielten Personen präsent und authentisch wirken, damit sie in ihrem Wesen und ihren Lebensbezügen erkennbar werden können. Sie zu verstehen, sich selbst darin wiederzufinden und sich zu positionieren, ist über die Darstellung hinaus untrennbar mit den Inhalten verbunden. Und beides zusammen ermöglicht die Entwicklung eigener Haltungen.

3.7. Theater ist politisch und demokratische Bildung
Theaterspielen mit Amateuren quer durch alle Altersstufen und transkulturellen Bereiche vertritt ein Verständnis kultureller Bildung, das sich einem humanistischen, pluralistischen und demokratischen Menschen- und Gesellschaftsbild verpflichtet fühlt, widersetzt sich Ausgrenzungs- und Verrohungstendenzen und trägt bei zu einem respektvollen Miteinander. In der Beschäftigung mit Texten, Themen und relevanten gemeinsamen Anliegen findet eine intensive, inhaltliche Auseinandersetzung, ein Diskurs statt. Die Umsetzung auf die Bühne erfordert eine ästhetische Transformation und damit die Beschäftigung mit künstlerischen Ausdrucksformen, die wiederum auf Dialog und Auseinandersetzung ausgerichtet sind.

3.8. Theater ist kulturelle Bildung
Bildungsprozesse sind nicht begrenzt auf die Zeit des Erwachsenwerdens. Wir können gar nicht anders als immer dazu zu lernen. Das Leben stellt uns täglich vor neue Herausforderungen. Diese erfolgreich anzunehmen oder an ihnen zu scheitern hängt wesentlich von unserer Lernfähigkeit ab. Ob wir es bewusst tun oder nicht, wir alle wirken mit an der Gestaltung unserer Lebenswelt. Joseph Beuys formulierte die Vorstellung, dass „jeder Mensch ein Künstler ist“(7) und prägte den Begriff der „Sozialen Plastik“.
Jeder Mensch trägt zum Gemeinschaftsleben bei und gestaltet damit die Gesellschaft mit. Wenn wir unter Kultur die spezifische Art und Weise verstehen, wie wir unser Zusammenleben gestalten und wahrnehmen, dann findet im Amateurtheater die Mitwirkung an der sozialen Plastik auf doppelte Weise statt. Einmal über die unmittelbare Partizipation am kulturellen Leben und zum anderen auf der inhaltlichen Ebenen der Auseinandersetzung mit eben diesem. Hier schließt sich der Kreis zu Schiller und zu vielen reformpädagogischen Konzeptionen. Ästhetische Bildung gründet auf der Überzeugung, dass sich der Mensch in der kreativen Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt.
Fazit: Theater als Bildungsmittel In oben angeführten Punkten liegt die große Stärke des Theaters: Kompetenzen und Inhalte unmittelbar miteinander zu verbinden. Ob es um Aristoteles‘ Nachahmungsverständnis, Lessings Mitgefühl, Schillers ästhetischer Erziehung oder Brechts episches Theater geht: Bildungsprozesse sind zentrales Anliegen des Theaters. Selbst das Theater, das jede Form eines Bildungsanspruchs ablehnt, stößt Bildungsprozesse an. Theater kann nicht anders, weil es Wirklichkeiten abbildet und zur Auseinandersetzung mit ihnen auffordert: Inklusion von Menschen mit Handicaps, Integration von Menschen aus anderen Kulturkreisen oder verschiedensten sozialen Schichten - das sind Themen, denen sich das Theater nicht entziehen kann.
Das Amateurtheater hat dabei die große Chance, Menschenleben aus diesen sozialen Feldern eine Bühne zu bieten und sie und ihre Themen im besten Sinn des Begriffs zu integrieren. Bezogen auf den gegenwärtigen Bildungsdiskurs bedeutet das, dass Theater als Bildungsmittel beides umfasst: Die Förderung personaler Kompetenzen und die Auseinandersetzung mit zentralen Lebensfragen.(8)
Unsere Gesellschaft und ganz besonders die Schule braucht zur Bewältigung heutiger Herausforderungen mehr Theater und nicht weniger!
„Ja, ich behaupte darum, dass das Theaterspiel eines der machtvollsten Bildungsmittel ist, die wir haben: ein Mittel, die eigene Person zu überschreiten, ein Mittel der Erkundung von Menschen und Schicksalen und ein Mittel der Gestaltung der so gewonnenen Einsicht."(9)

Autoren: Monika Hunze und Jürgen Mack unter Mitarbeit von Marco Graša

 

(1) nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Bildung (abgerufen am 13.02.2024)
(2) https://www.bildungsxperten.net/wissen/was-ist-bildung/ (abgerufen am 13.02.2024)
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Bildung (abgerufen am 13.02.2024)
(4) http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/schiller_erziehung02_1795?p=38 (abgerufen am 13.02.2024)
(5) Paul Klee: Schöpferische Konfession. in: Paul Klee Kunst-Lehre Reclam Leipzig 1987 S. 60
(6) Gerald Hüter/Christoph Quarch: RETTET DAS SPIEL! – weil Leben mehr als funktionieren ist. Carl Hanser Verlag München 2016, Seite 17.
(7) Wolfgang Zumdick: Joseph Beuys als Denker. PAN/XXX/ttt, Sozialphilosophie – Kunsttheorie − Anthroposophie, Mayer, Stuttgart, Berlin 2002, S. 12
(8) Mack, Jürgen/Jauch, Werner: Theater als Bildungschance in: Lehren und Lernen Heft 4 2002
http://www.semghs.fn.bw.schule.de/theater/bildungschance.html
(9) Hartmut v. Hentig Bildung, München 1996 S.119